Manchmal fügt es sich einfach. So ist es der Idealfall, wenn man ein neues Projekt startet. Bei Plattners scheint es, als hätten sie ein Abo für Fügungen: Das Wunschprojekt, der Wunscharchitekt, die Wunschdirektion im Wunschort (Heimatort). Die Hürden, die sie dabei zu überbrücken hatten, beispielsweise die fünfjährige Vorgeschichte vom ersten Kaufvertrag bis zur Baubewilligung, wirken dabei wie Weggabelungen, die notwendig waren, damit alles so kommt, wie es kommen soll. Doch ein bisschen Hilfe hatte die Fügung dann doch. Viele Weichen für diesen neuen Weg wurden teilweise schon vor Jahrzehnten gestellt. Plattners geradliniger Weg in der Hotelbranche, der stets sehr qualitätsorientiert und leidenschaftlich war, spielt hier die Hauptrolle. Pontresina ist der Ort, wo ihre Kinder aufgewachsen und sie inzwischen stark verwurzelt sind. Unter anderem auch mit ihrem hotelähnlichem Wohnungsangebot alpinelodging. Zum Zug kommt jetzt auch ihr langjähriges Interesse für Kunst, Architektur und Kultur, Elemente, die sie als wichtige Inhalte für ein attraktives touristisches Angebot sehen. Ohne dies hätten sie vermutlich niemals so zielstrebig den renommierten Architekten Gion A. Caminada aus Vrin (GR) ausgewählt. Für die Wunschdirektion ist eine langjährige Freundschaft und Geschäftsbeziehung mit dem Hotelierpaar Müller verantwortlich. Sie führten bis vor kurzem noch das Hotel Castell in Zuoz.

Ein Besuch auf der Baustelle des Hotel maistra160 mit Bettina Plattner und Irene Müller steht auf meiner Agenda. Bewusst habe ich für diesen Termin einen Zug früher genommen, um Pontresina noch ein wenig auf mich wirken zu lassen. Ich geniesse den Weg zu Fuss ins Dorf und sauge Räume, Landschaft und Strukturen auf. Es begleitet mich eine Mischung aus verschiedenen architektonischen Bauten: Engadiner Häuser mit ihren tiefen, angeschrägten Fensterlaibungen, manche mit der regionaltypischen Fassadenkunst «Sgraffito» verziert; Hotels, manche villenartig aus der Belle Epoque, andere zeitgenössisch; dazwischen etwas alpine Durchschnittsarchitektur, die auch nicht fehlen darf. Tradition und Moderne sind gleichermassen vertreten. Diese Mischung verleiht dem Bergdorf am Fusse des 4’049 Meter hohen Piz Bernina einen ganz eigenen, besonderen Charme.
« Ich bemühe mich, alle philosophischen und geistigen Inputs aufzuschreiben und gehe ihnen nach. Ich will verstehen und von ihm lernen. Auch für unsere Kommunikation sind seine Äusserungen sehr wertvoll. Als Caminada zugesagt hatte, war uns klar: Da entsteht mehr als ein Hotel. Er bringt uns seine Sprache. Und ich will versuchen, sie zu verstehen. »
Der Hotelname weist mir den Weg, denn Via Maistra, Rätoromanisch, bedeutet Hauptstrasse. In Pontresina handelt es sich eher um eine Flaniermeile mit etwas Verkehr, die sich parallel zum Gletscherfluss Ova da Bernina durch das langgestreckte Dorf zieht. Die Hausnummer 160 ist einfach zu finden: eine grosse Baustelle Mitten im Zentrum hinter einem verkleideten Bauzaun. Auf 1’805 müM brennt die Sommersonne bei Weitem nicht so, wie im „Unterland“, wie die Engadiner die Schweiz unterhalb ihres Hochtales nennen. Ideale Bedingungen für die Begehung eines Rohbaus, der bisher nur ein Skelett aus Wänden, Stützen, Decken, Rohren und Leitungen darstellt, sowie behelmten Männern, die darin umherschwirren. Der übliche Baulärm begleitet uns. Es fühlt sich vertraut an. Erinnerungen, als ich selbst noch als Architektin Ideen in gebaute Realität umgesetzt habe, kommen wieder auf. Während mir Plattner die Dimensionen erläutert, entstehen die ersten Bilder bereits in meinem Kopf-Kino.
Hier entsteht ein kleines Hochhaus, das sich jedoch nicht als solches zu erkennen gibt. Fünf der neun geplanten Stockwerke schmiegen sich an den Südhang und werden auf Strassenniveau, dem Eingang, nicht wahrgenommen. Im nördlichen Bereich öffnen sich grossflächig zwischen Bodio Nero – Natursteinsäulen Restaurant, Empfang, Réception / Administration / Direktion, und Bar. Neben den Hotelgästen werden hier auch Passanten und Einheimische mit alpiner Gastronomie willkommen geheissen. Die Küche, eine Arven-Stube sowie Bibliothek und Aufenthaltsraum mit Workation-Option sind im Süden positioniert und eher den Hotelgästen vorbehalten. Im Erdgeschoss treffen sich Materialien aus der Region: Der Naturstein Bodio Nero für die Stützen im ganzen Hotel stammt vom Pizzo di Claro in den Adula-Alpen mit einer tessiner und einer bündner Seite, der zukünftige Terrazzo-Boden ist ein Bernina-Steingemisch -inklusive Jadepartikeln, die Bettina Plattner besonders gefallen-, und das Arvenholz ist ein Holz aus dem Engadin. Von Caminadas Architektur-Handschrift lässt sich bisher nur ein Bruchteil erkennen. Es bleibt spannend, was die weitere Ausführung seiner Arbeit zum Vorschein bringt. Das Erdgeschoss, diese vertikale Mitte bezeichne ich gerne als «Kopf» des Hotels. Hier wird produziert, gedacht, geplant und organisiert.
Wir arbeiten uns durch zahlreiche Baustützen und durch die Stockwerke von oben nach unten. In den Geschossen oberhalb der Via Maistra stapeln sich in 4 x 3er-Blöcken kleeblattförmig 36 Hotelzimmer um eine zentrale Erschliessung herum. Geplant wurden diese in einem 1:1-Zimmermodell, das sich in Caminadas Büro- und Heimatort Vrin befindet. Dort kann er der Bauherrschaft seine Ideen dreidimensional nahebringen und seinen Entwurf gleichzeitig weiterentwickeln: Kein alltägliches Angebot eines Architekten. Jedes Zimmer hat, auch dank der exquisiten Lage Pontresinas, in alle vier Himmelsrichtungen spannende Ausblicke auf die Bergwelt und monumentale Bergspitzen: Piz Bernina (4’049 m), Schafberg (2’647 m), Piz Julier (3’380 m) und Corvatsch (3’451 m). Da schlägt das Wanderer- oder Skifahrerherz gleich doppelt so schnell. In den drei Untergeschossen, nach Süden in den Hang gebettet, stehen Wände aus Backstein und Beton mit raumhohen Öffnungen zur südlichen Bergwelt. Hier entstehen 11 Wohnungen, die maistra lodges, die zum Hotel gehören. Das Konzept ist analog alpinelodging hotelähnlich, jedoch ästhetisch im Stil Caminadas.

Im 3. Untergeschoss nähern wir uns dem «Herzen» des Hotels: Dem Spa. Caminada widmete sich diesem Bereich als Erstes. Alles weitere entwickelte er darum herum. Bodionero-Säulen, die sich hier über drei Geschosse in die Höhe strecken, lassen ein imposantes Raumgefühl entstehen. Caminada wurde von historischen Kreuzgängen mit Atrium inspiriert. Ich habe schon einige auf Reisen gesehen, angegliedert Kirchen und in christlichen Klöstern. Es handelte sich dabei um von gewölbeartigen Decken überspannte, breite, die sich auf einer quadratischen Fläche um einen offenen Innenhof, das Atrium, anordnen. Dieser Ort, ursprünglich Klausurbereich für Geistliche, impliziert Rückzug, Ruhe und Kontemplation. Architektonisch setzt Caminada das Spa deshalb unüblich introvertiert um. Zeitgenössische Wellnesszonen bieten in der Regel grosse Verglasungen zur Natur. Im maistra160 wird die Natur nur im Atrium durch eine runde Öffnung zum Himmel und das vorherrschende Wetter und Klima wahrgenommen. Ansonsten wird auf Einkehr, Erholung und Regeneration gesetzt, wesentliche Elemente in unserer schnelllebigen, digitalen Welt. Wärme, Kälte, Wasser, Feuer und Luft gestalten den Erlebnisraum des Gastes. Als Ergänzung zum Spa befinden sich eine Etage höher Fitness-, Ruhe- und Behandlungsräume.m
Der Kreuzgang war Ausgangspunkt für den gesamten Hotelentwurf. Ziemlich anspruchsvoll, eine solche Idee einer Bauherrschaft zu vermitteln. Doch noch schwieriger ist es wohl, als Bauherren die Gedankengänge eines intellektuellen Entwerfers nachzuvollziehen. Als Architekt spielt Caminada international in der oberen Liga. Plattners lernen bei ihrem Projekt sowohl seinen Intellekt als auch seine philosophisch-künstlerische Seite kennen. Sie haben die Arbeiten Caminadas schon lange verfolgt, und sich schliesslich bewusst für ihn entschieden. Er, glücklicherweise, dann auch für sie. Ausschlaggebend waren unter anderem auch seine intensiven Auseinandersetzungen mit Dorfstrukturen. Gleichzeitig versprach sein Renommee hohe Qualität und Kompetenz. Plattners wussten, dass die Planung an diesem Standort anspruchsvoll werde, und setzten auf die richtige Karte.
Ein Meilenstein in diesem Projekt, den Caminada mitzuverantworten hatte, war die erfolgreiche Zonenplanänderung. Das Maistra160 ersetzt das ehemalige Hotel Post, ein 120-jähirges Gebäude, das aufgrund weniger Details als erhaltenswert eingestuft, doch vielfach umgebaut wurde und sehr renovierungsbedürftig war. Der Erhalt wäre aufgrund des Zustands und der Grösse nicht ökonomisch nachhaltig und sinnvoll gewesen. Auch wenn die Bewilligungsphase Plattners viel Geduld abverlangt hat, so können sie mit Caminadas Entwurf jetzt ihre langjährige Vision ihres Wunschhotels umsetzen. Zusätzlich empfinden Plattners die Zusammenarbeit mit Caminada als sehr gehaltvoll und angenehm, auch wenn es immer wieder eine Herausforderung ist. „Ich bemühe mich, alle philosophischen und geistigen Inputs aufzuschreiben und gehe ihnen nach. Ich will verstehen und von ihm lernen. Auch für unsere Kommunikation sind seine Äusserungen sehr wertvoll. Als Caminada zugesagt hatte, war uns klar: Da entsteht mehr als ein Hotel. Er bringt uns seine Sprache. Und ich will versuchen, sie zu verstehen“, so Bettina Plattner. Ein Dilemma, mit dem sie als Bauherrin nicht allein ist, und deshalb schön, dass sie sich darauf einlässt.

Wir haben inzwischen das Spa verlassen und werfen in den Untergeschossen einen kurzen Blick in weitere rechteckige Räume, z.B. den Yogaraum und die Creativebox, die alternativ auch für Seminare genutzt werden können. Beide sind grossflächig verglast und mit Gartenzugang. Nun folgt etwas Aussergewöhnliches: Ein Raum ohne Tageslicht: Der «Pöstlicheller 2.0». Plattner verweilt hier länger und erzählt die Story vom ehemaligen Jugendraum, dem Pöstlikeller des ehemaligen Hotels Post. Er war eine Institution und bot Raum für legendäre Konzerte, Treffen und Austausch. Hier kommt Plattners ausgeprägte Neigung zu sozialer Nachhaltigkeit zum Ausdruck. Für sie war es undenkbar, das Hotel Post mit dem Pöstlikeller abzureissen, ohne einen adäquaten Ersatz zu bieten. „Es ist mir wichtig, in meinem Aktionsradius etwas beizutragen, was Pontresina zu einem attraktiven Ort für Einheimische macht. Man kann sich nicht beschweren, dass die Jungend oder Mitarbeitende abwandern und ihnen gleichzeitig die Lebensgrundlage entziehen.“ Ein separater Zugang ist gewährleistet, und damit sich die Nachbarn nicht an lauten, nächtlichen Rauchern stören müssen, wurde zusätzlich ein Fumoir eingeplant. Im Maistra160 werden der Pöstlikeller-Zielgruppe, den U30-Jährigen, diese Räumlichkeiten regelmässig mietfrei zur Verfügung gestellt. Hier setzt das Maistra160 ein wichtiges soziales Zeichen, das gleichzeitig auch Einheimische und Hotelgäste zusammenbringt.
« Es ist mir wichtig, in meinem Aktionsradius etwas beizutragen, was Pontresina zu einem attraktiven Ort für Einheimische macht. Man kann sich nicht beschweren, dass die Jungend oder Mitarbeitende abwandern und ihnen gleichzeitig die Lebensgrundlage entziehen. »
Plattners Engagement auf sozialer Ebene endet jedoch nicht vor Maistras Türen. Ein Glücksfall für Irene Müller, die zukünftig mit ihrem Mann Martin das Maistra160 operativ leiten wird. Sie beendeten erst kürzlich die Direktionsposition im Hotel Castell in Zuoz und wissen, wie schwer es aktuell ist, ein geeignetes Team zu finden. Der Arbeitskräftemangel ist auch im Engadin eine grosse Herausforderung. Insofern kann sich Müller freuen, dass Plattners parallel zum Maistra160 ein Mitarbeiterhaus, die Chesa Curtinella, bauen. Sinnbildlich ein weiteres Ausrufezeichen hinter Plattners sozialem Engagement. Das Mitarbeiterhaus stammt aus der Feder der Engadiner Architektin Caty Emonet der Studio C Architektin GmbH aus St.Moritz. Die Mitarbeitenden kommen in ihrer Bleibe in den Genuss von drei unterschiedlichen Unterkunftsgrössen, eines Gemeinschafts- und Fitnessraumes und Garten. Mit Lebensqualität dem Mangel an Arbeitskräften entgegenwirken ist bestimmt eine erfolgreiche Strategie.

Wenn sich weiterhin alles so gut fügt, kann ab Sommer 2023 mit einem neuen Hospitality-Highlight in Pontresina gerechnet werden: Eine erfahrene strategische als auch operative Leitung, architektonisch und künstlerisch hochwertig gepaart mit alpiner Gastronomie, auf den Zeitgeist ausgerichtet und auf vielen Ebenen nachhaltig. Es bleibt spannend, wie sich das rohe Skelett in den nächsten Monaten zu einem bewohnbaren Hotel wandeln wird. Wer dies mitverfolgen möchte, dem empfehle ich den hoteleigenen Instagram-Account maistra160.
Nach zwei Stunden und um viele Informationen und Eindrücke reicher, erreichen wir wieder das Erdgeschoss. Für Bettina Plattner passt der Zeitplan, da just der nächste Termin ansteht. Irene Müller nimmt es etwas entspannter. Sie und ihre Familie haben sich vor dem Neuanfang noch ein Sabbatical gegönnt. Ab Oktober geht es dann aber auch schon wieder in die Planungs- und Vorbereitungsphase. Es bleibt noch einiges zu tun bis zur Eröffnung. Doch auch bei dieser wird sich bestimmt wieder alles glücklich fügen.